Filmlook mit Vollformat-Kameras
Das bewußte Gestalten mit der Schärfentiefe ist ein wesentlicher Bestandteil des „Filmlooks“ wie wir ihn aus dem Kino und bei hochwertigen Spielfilmproduktionen kennen. Seit 2008, als die Canon 5D II mit ihrer Videofunktion den Kameramarkt revolutioniert hat, stand zum ersten Mal ein Werkzeug zur Verfügung, diesen Filmlook mit vergleichsweise kostengünstigen Mitteln zu erreichen. Die besten technische Voraussetzungen für die Gestaltung mit geringer Schärfentiefe sind ein großer Bildsensor, am besten im Vollformat, und ein Objektiv mit möglichst hoher Lichtstärke.
In diesem Artikel geht es darum, wie der Einsatz einer Vollformatkamera die Produktion und Gestaltung eines Films beeinflussen kann.
Übersicht:
- Die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken
- Bokeh
- Im Alltäglichen das Wunderbare erkennen
- Kleine Macken verzeihen
- Leicht und kompakt
- Mobil und preiswert
- Psychologische Nähe
- Ungewohnte Sichtweisen
- Vintage Look
- Einschränkungen
- Fazit
1. Die Aufmerksamkeit des Betrachters lenken
Je größer der Sensor, je lichtstärker das Objektiv und je länger die Brennweite, um so geringer ist die Schärfentiefe. Die typischen Anwendungsbereiche sind zum Beispiel Testimonials, Videoportraits, Produktpräsentationen, Eventfilme und Mood-Videos aller Art. Immer dann, wenn das Auge des Zuschauer bewusst auf ein Detail gelenkt werden soll, ist dieser gestalterische Aspekt besonders wirkungsvoll. Aus einem alltäglich Bild kann ein besonders Bild werden, das ohne spezielle „Tricks“ auch nicht mal eben mit dem Smartphone entstehen kann. Ein Smartphone verfügt Bauart bedingt weder über einen großen Bildsensor noch über eine ausreichend lichtstarke Optik.
2. Bokeh
Lichtquellen, Reflektionen und helle Bildbereiche ergeben in der Unschärfe kreisförmige Abbildungen, Bokeh genannt. Das Bokeh unterstützt eine leichte, luftige und verträumt beziehungsweise zauberhaft wirkende Bildsprache und ist ebenfalls ein Element des Filmlooks. Das Bokeh wird durch das Objektiv erzeugt und variiert je nach Bauart.
3. Im Alltäglichen das Wunderbare erkennen
Alltägliche Gegenstände und Szenen bekommen eine ganz neue Sichtweise und Dimension. Das alltägliche Büro wird durch die bewusste Reduktion der Schärfentiefe ganz anders und bewusster wahrgenommen. Besonders in Zusammenhang mit Nahaufnahmen entstehen ganz neue Bilderwelten, welche von die Realität entrückt zu sein scheinen.
4. Kleine Macken verzeihen
Der Bürotisch hat eine Schramme, die weiße Wand ist leicht verschmutzt und der Vorhang hat ein kleines Loch. Diese Unzulänglichkeiten kann der Kameramann geschickt in die Unschärfe verlagern und schon ist das Problem gelöst. Gerade bei Totalen oder Halbtotalen, die naturgemäß von hinten bis vorne scharf sind, hilft eine Vollformat-Kamera mit lichtstarkem Objektiv sehr.
5. Leicht und kompakt
Fotokameras sind Bauart bedingt kleiner und leichter als die klassischen Videokameras, zumal sie ursprünglich keinen Ton mit aufzeichnen. Das geringere Gewicht und die kompaktere Bauform bietet neue Einsatzmöglichkeiten. Zum Beispiel die Befestigung in Fahrzeugen oder außen an Fahrzeugen in Bodennähe.
6. Mobil und preiswert
Ob Stativ, Schwenkkopf, Gimbal, Dolly oder Kran: Das Zusatzequipment kann leichter und kompakter und damit auch preiswerter sein.
Die kompaktere Bauform bedeutet auch eine geringere Ermüdungserscheinungen beim Kameramann, der die Kamera den ganzen Tag trägt.
7. Psychologische Nähe
Eine relativ geringe Größe des Kameraequipments hat auch einen wichtigen psychologischen Effekt bei Reportagen und Dokumentationen auf die Personen vor der Kamera. Menschen im Alltag verhalten sich natürlicher, wenn sie nicht in eine Kamera sprechen und nicht merken, dass sie gerade gefilmt werden. Die Aufnahme selbst und das Bewusstsein, gerade aufgenommen zu werden verändert die Aussage sowohl inhaltlich als auch vom Ausdruck her. Bestimmte Dinge möchte man nicht „in der Öffentlichkeit“ sagen. Je aufwändiger und größer das Filmequipment, desto „wichtiger“ wirkt das ganze Geschehen auf die Akteure. Der Profi erhält dadurch Wertschätzung, der Laie fühlt sich aber eher erschlagen.
8. Ungewohnte Sichtweisen
Vollformat Fotoapparate haben eine nutzbare Sensorfläche von 24x36mm, was dem klassischen Kleinbildformat in der analogen Fotografie entspricht. Für diesen Typ von Fotoapparat sind in den letzten Jahrzehnten einige Spezial-Optiken entwickelt worden, die es für Filmkameras aufgrund der im Verhältnis geringen gebauten Stückzahlen und des Verwendungszwecks nicht geben hat: extrem lichtstarke Objektive mit Blende 1,0 / 0,95, extreme Weitwinkelobjektive, extreme Teleobjektive oder diverse Makroobjektive. All diese Optiken lassen sich mit Hilfe von Adaptern an digitalen Fotoapparaten mit Vollformat-Sensor verwenden ohne Einschränkung der Entfernungseinstellung oder des Bildwinkels.
9. Vintage Look
So manche Optik für das Kleinbildformat hat aufgrund ihrer Linsenkonstruktion und ihrer „Bildfehler“ einen ganz eigenen Charme, der nicht der klassischen Anforderung nach optimaler Schärfe, hohem Kontrast und verzeichnungsfreier Abbildung entspricht. Gestalterisch lässt sich dieses enorme Potential zum Teil sehr wirkungsvoll und gleichzeitig preisgünstig nutzen.
10. Einschränkungen
● Schärfentiefe: Der größte Vorteil ist gleichzeitig auch der größte Nachteil – in bestimmten Situationen zumindest. Die geringe Schärfentiefe bringt auch die Notwendigkeit mit sich, Schärfe konstant nachzuziehen, was schon mal sehr schwierig werden kann bei Sportaufnahmen oder im News-Einsatz und wenn „schnelle Bilder“ gefragt sind.
Bei einer Gruppenaufnahme von leitenden Angestellten ist es unter Umständen sogar wichtig, alle Personen gleich scharf abzubilden und geringe Schärfentiefe ist unerwünscht. Bei Landschaftsaufnahmen und Architektur-Filmen sind meist Totalen und der umfassende Blickwinkel gefragt. Hier bieten sich der Filmlook eher weniger an.
● Festbrennweiten: Die gestalterischen Möglichkeiten von lichtstarken Festbrennweiten gehen zu Lasten des schnellen und einfachen Handlings von Zoomobjektiven. Der Kameramann muss sich vor Drehbeginn ganz bewusst im Klaren darüber sein, ob er Zeit hat, Objektive zu wechseln und im Zweifelsfall ein Motiv zu verpasst, oder ob das nicht möglich ist. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung, die auch jeder Fotograf treffen muss.
● Tonaufzeichnung: Das Fehlen professioneller XLR-Eingänge und die Tatsache, dass die für viele Mikrofontypen wichtige 48V Phantomspeisung bei einem Fotoapparat nicht zur Verfügung stehen sind eine wichtige Einschränkung, wenn denn Sprache oder qualitativ hochwertiger Ton wichtig ist. Externe Lösungen, für die es inzwischen reichhaltige Angebote gibt, machen das Handling umständlicher, weniger betriebssicher und die Ausrüstung voluminöser und schwerer.
● Rolling Shutter: Dieser Verzeichnungseffekt, der bei schnellen Kamerabewegungen oder schnellen durchs Bild sich bewegenden Objekten in Erscheinung tritt liegt an der Charakteristik des verwendeten Sensors in Fotoapparaten. Auch hier muss der Einsatzzweck darüber entscheiden, ob diese Einschränkung ein gravierender Nachteil ist. Bei Sport- und Actionaufnahmen oder Reißschwenks ist das sicher der Fall.
● Signalverarbeitung und Kompressionsartefakte: Die Signalverarbeitung und -aufzeichnung in filmenden Fotoapparaten ist nicht ganz auf dem gleichen Qualitätslevel wie dedizierte Filmkameras. Das lässt sich nicht leugnen und ist in Anbetracht der Preisunterschiede für die Hardware und der Baugröße der Kamera auch nachvollziehbar. Die Technik macht gerade in diesem Sektor aber große Fortschritte und die Grenzen werden sich in naher Zukunft immer mehr auflösen.
● Aufzeichnungsdauer: Weil nach Deutschland importierte Fotoapparate aus Japan oder Amerika geringen Zollabgaben unterliegen als importierte Videokameras ist die Aufzeichnungdauer von Fotoapparaten auf maximal 29:59 Minuten begrenzt. Für mehrstündige Event-Mitschnitte ganz eindeutig ein Ausschlusskriterium.
● Moirée: Die für Fotozwecke entwickelten Sensoren mit einer hohen Pixeldichte sind besonders anfällig für den Moirée-Effekt. Dieser flimmernde Muster erzeugende Effekt tritt in der Praxis besonders bei feingemusterten Textilien/Stoffen auf, aber auch bei regelmäßigen Strukturen an Hausfassaden, Gittern oder beim Filmen von Computer-Bildschirmen.
● Staub: Jeder Objektivwechsel erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass beim Wechsel sich Staub auf dem Sensor ablagern kann. Eine gewissenhafte Kontrolle ist leider unerlässlich, aber mit einem gezielten Luftstoß aus einem kleinen Blasebalg läßt sich das Staubkorn leicht entfernen. Hartnäckiger sind hingegen kleinste Staubpartikel, die durch Änderungen der Luftfeuchtigkeit im Laufe der Zeit unbemerkt am Sensor kleben bleiben und sich nicht mehr mit Luftdruck entfernen lassen. Einmal pro Jahr ist dann eine Sensorreinigung durch den Kameraservice fällig.
11. Fazit
Das Arbeiten mit Vollformat-Kameras und Festbrennweiten bedeutet:
- bewussteres Gestalten
- Zeit nehmen
- Selektion der Möglichkeiten
- Klasse statt Masse
Wenn das schlicht und ergreifend nicht gewünscht oder nicht möglich ist, wenn der Rolling-Shutter-Effekt ein Ausschlusskriterium ist, wer höchsten Standard in der Bildnachbearbeitung erwartet oder möglichst viel Material in möglichst kurzer Zeit abgedreht werden muss, dann ist man mit anderen Kameralösungen besser bedient.
Ich möchte am Schluss nicht vergessen darauf hinzuweisen, dass es auch Kompromisslösungen gibt, wenn geringe Schärfetiefe nicht das Maß aller Dinge ist: Videokameras mit 35mm-Sensor und filmende Fotoapparte im APS-C Format beziehungsweise Micro-Four-Third Format. Mit diesen Kameras ist ähnlicher Filmlook erreichbar wie mit Vollformatkameras, auch wenn die Sensorfläche kleiner ist. Diese Kameras sind vor allem noch kompakter.